Kriminalität Wochenlang hat ein Gerichtsprozess im Süden der USA das Land in Atem gehalten und weltweit für Schlagzeilen gesorgt. Eine wahre Geschichte, die sich Hollywood nicht dramatischer hätte ausdenken können. Jetzt ist sie zu Ende gegangen - zumindest vorläufig.
«Bitte kommen Sie schnell», ruft ein Mann völlig aufgelöst ins Telefon. Es ist der 7. Juni 2021, kurz nach 10 Uhr abends, in einem entlegenen Teil des US-Bundesstaates South Carolina. Die Häuser stehen hier teilweise Kilometer weit voneinander entfernt, an Feldrändern, getrennt durch dichten Wald. «Ich brauche die Polizei und einen Krankenwagen.» Der Mann am Telefon klingt verzweifelt, immer wieder überschlägt sich seine Stimme. «Meine Frau und mein Sohn wurden erschossen, es ist übel.»
Die Stimme gehört Alex Murdaugh. Mehr als eineinhalb Jahre nach dem Notruf wird der 54-jährige ehemalige Anwalt gut 30 Kilometer vom Tatort entfernt im nüchternen Gerichtssaal des beschaulichen Südstaatenstädtchens Walterboro sitzen und sagen, er habe mit den Morden an seinem 22-jährigen Sohn Paul und seiner 52-jährigen Frau Maggie an jenem Abend nichts zu tun gehabt. Immer wieder wird er während seiner mehrere Tage dauernden Vernehmung in Tränen ausbrechen, so wie an jenem Abend am Telefon.
Und er wird zugeben, gelogen zu haben, als er der Polizei sagte, er sei an jenem 7. Juni zur Tatzeit weit weg vom Tatort gewesen - jenem Ort dort unten bei den Hundezwingern am anderen Ende des riesigen Anwesens, hunderte Meter von dem Wohnhaus der Familie entfernt. Auf einem Handyvideo seines ermordeten Sohnes, aufgenommen nur Minuten vor der Tat, ist Murdaughs Stimme zu hören. Es ist das entscheidende Indiz.
Warum wir das alles wissen? Weil sich der Prozess in aller Öffentlichkeit abspielte - und die Geschichte einer Tragödie zu einem Medienspektakel wurde: Wochenlang stehen die Reporter sämtlicher US-Fernsehsender vor dem Gerichtsgebäude im kleinen Walterboro, vor dem wuchtigen Portal mit den dicken griechischen Säulen zu dem von beiden Seiten gewundene Treppenaufgänge hinaufführen. Kameras im Gerichtssaal zeigen jede von Alex Murdaughs Regungen in Nahaufnahme, Mikrofone übertragen jedes Wort in amerikanische Wohnzimmer, Tag für Tag, stundenlang. Und eine ganze Nation schaut gebannt zu.
Live-Übertragungen von Gerichtsverhandlungen haben in den USA Tradition. Am 3. Oktober 1995 verfolgten laut US-Medien rund 150 Millionen Menschen, mehr als die Hälfte der damaligen US-Bevölkerung, die Urteilsverkündung im Mordfall gegen den prominenten ehemaligen American-Football-Spieler O. J. Simpson. In vielen Fällen kann der vorsitzende Richter darüber verfügen, ob Kameras in seinem Gerichtssaal zugelassen sind. Das Verhältnis zu Persönlichkeitsrechten und Privatsphäre ist in den USA ein anderes als in Deutschland. Befürworter von Live-Übertragungen berufen sich häufig auf den ersten Zusatzartikel der US-Verfassung, in dem die Pressefreiheit verankert ist.
Der Fall der Murdaugh-Morde erschreckt und fasziniert zugleich. Weil Alex Murdaugh Sohn einer in South Carolina hoch angesehen Anwaltsdynastie ist, die in der Gegend Macht und Einfluss hatte. Nach eigenen Angaben verdiente er Millionen. Aber auch weil es im Umfeld von Murdaughs Familie in der Vergangenheit gleich mehrere mysteriöse Todesfälle gab. Murdoch selbst war nach eigenen Angaben schwer opiatabhängig. Einige Monate nach dem Mord an seinem Sohn und seiner Frau soll er einen Auftragskiller angeheuert haben, um ihn selbst umzubringen. Murdaugh wollte angeblich, dass seine Lebensversicherung in Höhe von zehn Millionen Dollar an seinen anderen, noch lebenden Sohn ausgezahlt wird.
Strahlendes Licht und abgrundtiefe Dunkelheit: Im Fall Murdaugh sind sie immer dicht beieinander. Es ist der Stoff für Hollywood. Die Streaming-Plattform Netflix verarbeitete das Schicksal der Murdaugh-Familie zu einer dreiteiligen Dokuserie. Kurz nach der Veröffentlichung am 22. Februar war «Murdaugh Murders: A Southern Scandal» auf Platz zwei der Netflix Top-10 in den USA. Auch in Deutschland ist die Serie zu sehen.
In dieser Woche kam das Drama dann vorläufig zum Abschluss. Am Donnerstag sprach die Jury aus zwölf Geschworenen nach nur dreistündiger Beratungszeit Murdaugh des Mordes an seiner Frau und seinem Sohn schuldig. Nach Darstellung der Staatsanwaltschaft soll er die Taten verübt haben, um von seinen wachsenden finanziellen Problemen abzulenken.
Am Freitag erschien Murdaugh dann zur Verkündung des Strafmaßes ein letztes Mal im Gerichtssaal. Diesmal nicht im weißen Hemd und mit Jackett - in Handschellen, mit khakifarbenem Sträflingsanzug und orangenen Gummisandalen wurde er dem Richter vorgeführt.
Zwei mal lebenslänglich ohne Bewährung. «Das war der erschütterndste Fall meiner Laufbahn», sagte der Richter Clifton Newman bei der Urteilsverkündung. «Ich weiß, Sie müssen Paul und Maggie nachts sehen, wenn Sie versuchen einzuschlafen. Ich bin mir sicher, sie kommen Sie besuchen.» Es ist das filmreife Ende eines Dramas. Zumindest vorläufig, denn Murdaughs Anwälte haben angekündigt, Berufung gegen den Schuldspruch einlegen zu wollen.